Anna Essinger (1879–1960)

Reformpädagogin und Gründerin des Landschulheims Herrlingen

Als Reformpädagogin gründete Anna Essinger 1926 das Landschulheim Herrlingen bei Ulm. Der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 begegnete sie mit Argwohn und Sorge. Sie entschloss sich dazu, Deutschland zu verlassen und ihre Arbeit in Südengland fortzusetzen. Im Exil gründete die warmherzige und tatkräftige Pädagogin erneut eine Privatschule. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges nahm sie dort zahlreiche geflüchtete jüdische Kinder auf, kümmerte sich um sie und rettete sie vor der Ermordung. Auch nach 1945 gab sie jüdischen Kindern, die den Holocaust überlebt hatten, eine sichere Zuflucht.

Anna Essinger wurde am 15. September 1879 als erstes von neun Kindern des Ehepaares Leopold und Fanny Essinger, geb. Oppenheimer, in Ulm geboren. Die Familie jüdischen Glaubens lebte vom Versicherungsbüro des Vaters. Im Alter von 20 Jahren ging Anna Essinger 1899 mit ihrer Tante Regina in die USA und studierte in Madison/Wisconsin das Fach Germanistik. Das Studium finanzierte sie mit Sprachunterricht und Literaturkursen. Zudem leitete sie ein eigenes Wohnheim für Studentinnen. Im Anschluss an ihr Studium arbeitete sie als Lehrerin. In den USA schloss sie sich auch der Gemeinschaft der Quäker an. Im Rahmen humanitärer Hilfen der Quäker kehrte sie 1919 nach Deutschland zurück und half in der Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg bei der Kinderspeisung. Engagiert versuchte sie, politisch Verantwortliche wie Bürgermeister und Schulleiter davon zu überzeugen, Küchen einzurichten, um Kindern wenigstens einmal am Tag eine warme Mahlzeit zu ermöglichen. Ab 1923 arbeitete sie in sogenannten „Frauenschulen“ in Stuttgart, die soziale Bildungseinrichtungen für Arbeiterinnen waren.

Die Gründung des Landschulheims Herrlingen verdankte Anna Essinger ihrer Schwester Claire, die seit 1912 ein reformpädagogisches Kinderheim leitete. Sie schlug ihrer Schwester vor, eine „progressive Internatsschule“ zu gründen. Anna war begeistert und beantragte am 22. Juli 1925 die Gründung der Schule. Mit finanzieller Hilfe ihrer Familie erwarb sie ein Grundstück in Herrlingen und baute im amerikanischen Farmhausstil ein zweistöckiges Waldschulgebäude. Zwei weitere Häuser kamen später hinzu. Am 1. Mai 1926 wurde die Privatschule mit Internat für 18 Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren eröffnet.

Ein Schüler erinnerte sich später an Anna Essinger:

„Wir haben Englischunterricht bei ihr gehabt. Und das war in ihrem Privatzimmer. So neun Kinder waren es schon. Und bevor wir anfingen, hat sie ‘ne Dose Bonbons gehabt. Und die hat sie immer geschüttelt. Und da wussten wir, jetzt fängt der Unterricht an. Dann hat jeder ein Bonbon bekommen, bevor wir mit dem Englischunterricht begannen.“

Am 1. April 1933 schrieb Anna Essinger: „Als Hitler die Macht übernahm, glaubten viele Leute, dass diese Art von Regime nicht lange währen könne. Im Dorf besaßen wir viele Freunde, aber alles, was in Deutschland geschah, fand selbst in diesem abgeschiedenen Ort seinen Widerhall." Sie entschied sich, nach England auszuwandern:

„Mir schien Deutschland nicht länger mehr ein Ort zu sein, an dem man Kinder in Ehrlichkeit und Freiheit großziehen konnte, und ich beschloss für unsere Schule eine neue Heimat zu finden.“

Im September 1933 gingen sechs Kinder und Lehrer als „Vorauskommando“ nach England. In drei Gruppen, als Klassenfahrten getarnt, folgten wenig später 65 weitere Kinder in Zügen, die in Ulm gestartet oder auf der Strecke über Basel, Breslau, Ostende und Dover eingesammelt worden waren. Es war eine einzigartige Aktion in Deutschland: Die Kinder wurden offiziell in die Ferien geschickt und wussten nicht, dass sie nicht wieder zurückkehren würden.

Am 5. Oktober 1933 eröffnete Anna Essinger im alten Herrenhaus Bunce Court im südenglischen Otterden (Grafschaft Kent) die „New Herrlingen School“. 1938 kamen weitere 81 jüdische Kinder hinzu, die im Rahmen der „Kindertransporte“ in Folge der Reichspogromnacht nach England gebracht werden konnten. Im Juni 1940 musste Anna Essinger Bunce Court verlassen. In Trench Hall in Shropshire fand sie eine neue Heimat für sich und 125 Kinder. 1946 konnte ihre Schule wieder nach Bunce Court zurückkehren.

Inzwischen war es jedoch immer schwieriger geworden, neue Kinder für die Schule zu finden, so dass sie im Juli 1948 geschlossen wurde. Seit 1926 hatten insgesamt rund 900 Kinder die Landschulheime in Herrlingen und in England besucht.

Ihre letzten Lebensjahre verbrachte Anna Essinger in Bunce Court. Vor allem mit ihren ehemaligen Schülerinnen und Schülern führte sie intensive Briefwechsel. Allerdings fiel ihr das Lesen und Schreiben immer schwerer, weil sie, die ihr Leben lang unter einer starken Kurzsichtigkeit litt, inzwischen fast erblindet war. Zu ihrem 80. Geburtstag pflanzten ihre „Ehemaligen“ ihr zu Ehren 1959 in Israel ein Wäldchen mit 241 Bäumen.

Anna Essinger starb kurze Zeit später am 30. Mai 1960 in Bunce Court.

Das Landschulheim Herrlingen hatte sie 1933 in weiser Voraussicht nicht formal aufgelöst, sondern an den Berliner Pädagogen Hugo Rosenthal übergeben, der es bis 1939 weiterführen konnte. Bis 1942 diente das Gebäude als Zwangsaltersheim für jüdische Senioren, bevor diese in die Vernichtungslager verschleppt wurden.


Download der Kurzbiographie (PDF)

Anregungen zum Weiterlesen:

  • TRACHSLER-LEHMANN, Susanne: „… ich bin gesund und kann gut rechnen …“ Briefe einer Schülerin aus dem Landschulheim Anna Essingers, Ulm 2001.
  • WINTER, Dietrich: Herrlingen. Begegnung mit außergewöhnlichen Persönlichkeiten, Ulm 2011.
  • KRUS, Heinz: „… aber ein Leben lang unvergessen …“ Die Landschulheime Herrlingen – Erinnerungen und Dokumente, Ulm 2001.

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